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Ideen und Kommentare zur Lektüre

Novalis: Die Christenheit oder Europa (1799)

1 Kommentar schreiben zu Absatz 1 0 Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen mensch­lich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein grosses gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Pro­vinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne grosse weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Ober­haupt, die grossen politischen Kräfte. – Eine zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, stand un­mittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohltätige Macht zu be­festigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost oder Hülfe, Schutz oder Rat bei ihm suchten, und gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorg­ten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehn und Gehör, und alle pflegten diese auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer, wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete. Kindliches Zutrauen knüpfte die Menschen an ihre Verkündigungen. – Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heilige Menschen eine si­chere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede missfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht, und geklärt wurde. Sie waren die erfahrnen Steuerleute auf dem grossen unbekannten Meere, in deren Obhut man alle Stürme geringschätzen, und zuversichtlich auf eine sichre Gelangung und Landung an der Küste der eigentlichen vaterländischen Welt rechnen durfte.

2 Kommentar schreiben zu Absatz 2 0 Die wildesten, gefrässigsten Neigungen mussten der Ehrfurcht und dem Gehorsam gegen ihre Worte wei­chen. Friede ging von ihnen aus. – Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, die mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu ret­ten bereit war. Sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen Menschen, die durch Anhänglichkeit und Treue an jene selige Mutter und ihr himmlisches, freundliches Kind, die Versuchung der irdischen Welt be­standen, zu göttlichen Ehren gelangt und nun schützende, wohltätige Mächte ihrer lebenden Brüder, willige Helfer in der Not, Vertreter menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Throne geworden waren. Mit welcher Heiterkeit verliess man die schönen Versammlungen in den geheim­nisvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süssen Düften erfüllt, und von heiliger er­hebender Musik belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reste ehemaliger gottesfürchtiger Menschen dankbar, in köstlichen Behältnissen aufbewahrt. – Und an ihnen offenbarte sich die göttliche Güte und All­macht, die mächtige Wohltätigkeit dieser glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. So bewahren liebende Seelen, Locken oder Schriftzüge ihrer verstorbenen Geliebten, und nähren die süsse Glut damit, bis an den wiedervereinigenden Tod. Man sammelte mit inniger Sorgfalt überall was diesen geliebten Seelen angehört hatte, und jeder pries sich glücklich der eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur berüh­ren konnte. Hin und wieder schien sich die himmlische Gnade vorzüglich auf ein seltsames Bild, oder einen Grabhügel niedergelassen zu haben. Dorthin strömten aus allen Gegenden Menschen mit schönen Gaben und brachten himmlische Gegengeschenke: Frieden der Seele und Gesundheit des Leibes, zurück.

3 Kommentar schreiben zu Absatz 3 0 Emsig suchte diese mächtige friedenstiftende Gesellschaft, alle Menschen dieses schönen Glaubens teilhaftig zu machen und sandte ihre Genossen, in alle Weltteile, um überall das Evangelium des Lebens zu verkündigen, und das Himmelreich zum einzigen Reiche auf dieser Welt zu machen. Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche, frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns, und unzei­tigen gefährlichen Entdeckungen, im Gebiete des Wissens. So wehrte er den kühnen Denkern öffentlich zu behaupten, dass die Erde ein unbedeutender Wandelstern sei, denn er wusste wohl, dass die Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und ihr irdisches Vaterland, auch die Achtung vor der himmlischen Heimat und ihrem Geschlecht verlieren, und das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorziehn und sich gewöhnen würden alles Grosse und Wunderwürdige zu verachten, und als tote Gesetzwirkung zu betrachten. An seinem Hofe versammelten sich alle klugen und ehrwürdigen Menschen aus Europa. Alle Schätze flossen dahin, das zerstörte Jerusalem hatte sich gerächt, und Rom selbst war Jerusalem, die heilige Residenz der göttlichen Regierung auf Erden geworden. Fürsten legten ihre Streitigkeiten dem Vater der Christenheit vor, willig ihm ihre Kronen und ihre Herrlichkeit zu Füssen, ja sie achteten es sich zum Ruhm, als Mitglieder dieser hohen Zunft, den Abend ihres Lebens in göttlichen Betrachtungen zwischen einsamen Klostermauern zu be­schliessen. Wie wohltätig, wie angemessen, der innern Natur der Menschen, diese Regierung, diese Einrich­tung war, zeigte das gewaltige Emporstreben, aller andern menschlichen Kräfte, die harmonische Entwick­lung aller Anlagen; die ungeheure Höhe, die einzelne Menschen in allen Fächern der Wissenschaften des Lebens und der Künste erreichten und der überall blühende Handelsverkehr mit geistigen und irdischen Wa­ren, in dem Umkreis von Europa und bis in das fernste Indien hinaus. –

4 Kommentar schreiben zu Absatz 4 0 Das waren die schönen wesentlichen Züge der echt katholischen oder echt christlichen Zeiten. Noch war die Menschheit für dieses herrliche Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Es war eine erste Liebe, die im Drucke des Geschäftlebens entschlummerte, deren Andenken durch eigennützige Sorgen verdrängt, und deren Band nachher als Trug und Wahn ausgeschrien und nach spätern Erfahrungen beurteilt, – auf immer von einem grossen Teil der Europäer zerrissen wurde. Diese innere grosse Spaltung, die zerstörende Kriege begleiteten, war ein merkwürdiges Zeichen der Schädlichkeit der Kultur, für den Sinn des Unsichtbaren, wenigstens einer temporellen Schädlichkeit der Kultur einer gewissen Stufe. Vernichtet kann jener unsterbliche Sinn nicht wer­den, aber getrübt, gelähmt, von andern Sinnen verdrängt. …

5 Kommentar schreiben zu Absatz 5 0 Einmal war doch das Christentum mit voller Macht und Herrlichkeit erschienen, bis zu einer neuen Welt-Inspiration herrschte seine Ruine, sein Buchstabe mit immer zunehmender Ohnmacht und Verspottung. Un­endliche Trägheit lag schwer auf der sicher gewordenen Zunft der Geistlichkeit. Sie war stehn geblieben im Gefühl ihres Ansehns und ihrer Bequemlichkeit, während die Laien ihr unter den Händen Erfahrung und Ge­lehrsamkeit entwandt und mächtige Schritte auf dem Wege der Bildung vorausgetan hatten. In der Verges­senheit ihres eigentlichen Amts, die Ersten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung zu sein, waren ihnen die niedrigen Begierden zu Kopf gewachsen, und die Gemeinheit und Niedrigkeit ihrer Denkungsart wurde durch ihre Kleidung und ihren Beruf noch widerlicher. So fielen Achtung und Zutrauen, die Stützen dieses und jedes Reichs, allmählich weg, und damit war jene Zunft vernichtet, und die eigentliche Herrschaft Roms hatte lange vor der gewaltsamen Insurrektion stillschweigend aufgehört. Nur kluge, also auch nur zeit­liche, Massregeln hielten den Leichnam der Verfassung noch zusammen, und bewahrten ihn vor zu schleuni­ger Auflösung, wohin denn z.B. die Abschaffung der Priester-Ehe vorzüglich gehörte. – Eine Massregel die analog angewandt auch dem ähnlichen Soldatenstand eine fürchterliche Konsistenz verleihen und sein Leben noch lange fristen könnte. Was war natürlicher, als dass endlich ein feuerfangender Kopf öffentlichen Auf­stand gegen den despotischen Buchstaben der ehemaligen Verfassung predigte, und mit um so grösserm Glück, da er selbst Zunft-Genosse war. –

6 Kommentar schreiben zu Absatz 6 0 Mit Recht nannten sich die Insurgenten Protestanten, denn sie protestierten feierlich gegen jede Anmassung einer unbequemen und unrechtmässig scheinenden Gewalt über das Gewissen. Sie nahmen ihr stillschwei­gend abgegebenes Recht auf Religions-Untersuchung, Bestimmung und Wahl, als vakant wieder einstweilig an sich zurück. Sie stellten auch eine Menge richtiger Grundsätze auf, führten eine Menge löblicher Dinge ein, und schafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber sie vergassen das notwendige Resultat ihres Prozesses; trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allge­meinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war. Der Zustand religiöser Anarchie darf nur vorübergehend sein, denn der notwendige Grund, eine Zahl Menschen lediglich diesem hohen Berufe zu widmen, und diese Zahl Menschen unabhängig von der irdischen Gewalt in Rücksicht dieser Angelegenheiten zu machen, bleibt in fortdauernder Wirksamkeit und Gültigkeit. […] Unglücklicherweise hatten sich die Fürsten in diese Spaltung gemischt, und viele benutzten diese Strei­tigkeiten zur Befestigung und Erweiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkünfte. Sie waren froh jenes hohen Einflusses überhoben zu sein und nahmen die neuen Konsistorien nun unter ihre landesväterliche Beschützung und Leitung. Sie waren eifrigst besorgt die gänzliche Vereinigung der protestantischen Kirchen zu hindern, und so wurde die Religion irreligiöser Weise in Staats-Grenzen eingeschlossen, und damit der Grund zur allmählichen Untergrabung des religiösen kosmopolitische[n] Interesse[s] gelegt. So verlor die Re­ligion ihren grossen politischen friedestiftenden Einfluss, ihre eigentümliche Rolle des vereinigenden, indivi­dualisierenden Prinzips, der Christenheit. Der Religionsfriede ward nach ganz fehlerhaften und religions­widrigen Grundsätzen abgeschlossen, und durch die Fortsetzung des sogenannten Protestantismus etwas durchaus Widersprechendes – eine Revolutions-Regierung permanent erklärt.

7 Kommentar schreiben zu Absatz 7 0 Indes liegt dem Protestantismus bei weitem nicht bloss jener reine Begriff zum Grunde, sondern Luther be­handelte das Christentum überhaupt willkürlich, verkannte seinen Geist, und führte einen andern Buchsta­ben und eine andere Religion ein, nämlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel, und damit wurde leider eine andere höchst fremde irdische Wissenschaft in die Religionsangelegenheit gemischt – die Philologie – deren auszehrender Einfluss von da an unverkennbar wird. Er wurde selbst aus dunkelm Gefühl dieses Fehl­griffs bei einem grossen Teil der Protestanten zum Rang eines Evangelisten erhoben und seine Übersetzung kanonisiert.

8 Kommentar schreiben zu Absatz 8 0 Dem religiösen Sinn war diese Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet, wie der Buchstabe. Im ehemaligen Zustande hatte dieser bei dem grossen Umfange der Geschmeidigkeit und dem reichhaltigen Stoff des katholischen Glaubens, so wie der Esoterisierung der Bibel und der heiligen Gewalt der Konzilien und des geistlichen Oberhaupts, nie so schädlich werden können; jetzt aber wurden diese Ge­genmittel vernichtet, die absolute Popularität der Bibel behauptet, und nun drückte der dürftige Inhalt, der rohe abstrakte Entwurf der Religion in diesen Büchern desto merklicher, und erschwerte dem heiligen Geiste die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich. Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protes­tantismus keine herrlichen grossen Erscheinungen des Überirdischen mehr, nur sein Anfang glänzt durch ein vorübergehendes Feuer des Himmels, bald nachher ist schon die Vertrocknung des heiligen Sinns bemerklich; das Weltliche hat die Oberhand gewonnen, der Kunstsinn leidet sympathetisch mit, nur selten, dass hie und da ein gediegener, ewiger Lebensfunke hervorspringt, und eine kleine Gemeinde sich assimiliert. […] Mit der Reformation war’s um die Christenheit getan. Von nun an war keine mehr vorhanden. Katholiken und Pro­testanten oder Reformierte standen in sektierischer Abgeschnittenheit weiter voneinander, als von Maho­medanern und Heiden. Die übriggebliebenen katholischen Staaten vegetierten fort, nicht ohne den schädli­chen Einfluss der benachbarten protestantischen Staaten unmerklich zu fühlen. Die neuere Politik entstand erst in diesem Zeitpunkt, und einzelne mächtige Staaten suchten den vakanten Universalstuhl, in einen Thron verwandelt, in Besitz zu nehmen. […]

9 Kommentar schreiben zu Absatz 9 0 Zum Glück für die alte Verfassung tat sich jetzt ein neu entstandener Orden hervor, auf welchen der ster­bende Geist der Hierarchie seine letzten Gaben ausgegossen zu haben schien, der mit neuer Kraft das Alte zurüstete und mit wunderbarer Einsicht und Beharrlichkeit, klüger, als je vorher geschehen, sich des päpstli­chen Reichs und seiner mächtigern Regeneration annahm. Noch war keine solche Gesellschaft in der Welt­geschichte anzutreffen gewesen. Mit grösserer Sicherheit des Erfolgs hatte selbst der alte römische Senat nicht Pläne zur Welteroberung entworfen. Mit grösserem Verstand war an die Ausführung einer grösseren Idee noch nicht gedacht worden. Ewig wird diese Gesellschaft ein Muster aller Gesellschaften sein, die eine organische Sehnsucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer fühlen, – aber auch ewig ein Beweis, dass die unbewachte Zeit allein die klügsten Unternehmungen vereitelt, und der natürliche Wachstum des ganzen Geschlechts unaufhaltsam den künstlichen Wachstum eines Teils unterdrückt. […] Einen gefährli­chern Nebenbuhler konnte der neue Lutheranismus, nicht Protestantismus, gewiss nicht erhalten. Alle Zau­ber des katholischen Glaubens wurden unter seiner Hand noch kräftiger, die Schätze der Wissenschaften flossen in seine Zelle zurück. Was in Europa verloren war, suchten sie in den andern Weltteilen, in dem ferns­ten Abend und Morgen, vielfach wiederzugewinnen, und die apostolische Würde und Beruf sich zuzueignen und geltend zu machen. Auch sie blieben in den Bemühungen nach Popularität nicht zurück, und wussten wohl wieviel Luther seinen demagogischen Künsten, seinem Studium des gemeinen Volks zu verdanken ge­habt hatte. Überall legten sie Schulen an, drangen in die Beichtstühle, bestiegen die Katheder und beschäf­tigten die Pressen, wurden Dichter und Weltweise, Minister und Märtyrer, und blieben in der ungeheuren Ausdehnung von Amerika über Europa nach China in dem wunderbarsten Einverständnis der Tat und der Lehre. Aus ihren Schulen rekrutierten sie mit weiser Auswahl ihren Orden. Gegen die Lutheraner predigten sie mit zerstörendem Eifer und suchten die grausamste Vertilgung dieser Ketzer, als eigentlicher Genossen des Teufels, zur dringendsten Pflicht der katholischen Christenheit zu machen. Ihnen allein hatten die katho­lischen Staaten und insonderheit der päpstliche Stuhl ihr langes Überleben der Reformation zu danken ge­habt, und wer weiss, wie alt die Welt noch aussehn würde, wenn nicht schwache Obere, Eifersucht der Fürs­ten und andern geistlichen Orden, Hofintrigen und andere sonderbare Umstände ihren kühnen Lauf unter­brochen und mit ihnen diese letzte Schutzwehr der katholischen Verfassung beinah vernichtet hätten. Jetzt schläft er, dieser furchtbare Orden, in armseliger Gestalt an den Grenzen von Europa, vielleicht dass er von daher sich, wie das Volk das ihn beschützt, mit neuer Gewalt einst über seine alte Heimat, vielleicht unter anderm Namen, verbreitet.

10 Kommentar schreiben zu Absatz 10 0 Die Reformation war ein Zeichen der Zeit gewesen. Sie war für ganz Europa bedeutend, wenn sie gleich nur im wahrhaft freien Deutschland öffentlich ausgebrochen war. Die guten Köpfe aller Nationen waren heimlich mündig geworden, und lehnten sich im täuschenden Gefühl ihres Berufs um desto dreister gegen verjährten Zwang auf. Aus Instinkt ist der Gelehrte Feind der Geistlichkeit nach alter Verfassung; der gelehrte und der geistliche Stand müssen Vertilgungskriege führen, wenn sie getrennt sind; denn sie streiten um Eine Stelle. Diese Trennung tat sich immer mehr hervor, und die Gelehrten gewannen desto mehr Feld, je mehr sich die Geistlichkeit der europäischen Menschheit dem Zeitraum der triumphierenden Gelehrsamkeit näherte, und Wissen und Glauben in eine entschiedenere Opposition traten. Im Glauben suchte man den Grund der allge­meinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. […] Das Resultat der mo­dernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu was dem Alten entgegen war, vorzüg­lich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhass gegen den katholischen Glauben ging allmählich in Hass gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr – der Religions-Hass, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthu­siasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Not oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei.

11 Kommentar schreiben zu Absatz 11 0 […] Frankreich war so glücklich der Schoss und der Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammen geklebt war. So verschrien die Poesie in dieser neuen Kirche war, so gab es doch einige Poeten darunter, die des Effekts wegen, noch des alten Schmucks und der alten Lichter sich bedienten, aber dabei in Gefahr kamen, das neue Weltsystem mit altem Feuer zu entzünden. Klügere Mitglieder wussten jedoch die schon warmgewordenen Zuhörer sogleich wieder mit kaltem Wasser zu begiessen. Die Mitglieder waren rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, – jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebende Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, dass es sich eher zerbrechen liess, als dass es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr grosses Geschäft, Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher, man reformierte das Erzie­hungswesen, man suchte der alten Religion einen neuern vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch; alle Gelehrsamkeit ward aufgeboten um die Zuflucht zur Geschichte abzuschneiden, indem man die Geschichte zu einem häuslichen und bürger­lichen Sitten- und Familien-Gemälde zu veredeln sich bemühte. – Gott wurde zum müssigen Zuschauer des grossen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feierlich bewirten und bewundern sollte. Das gemeine Volk wurde recht mit Vorliebe aufgeklärt, und zu jenem gebildeten Enthusiasmus erzogen, und so entstand eine neue europäische Zunft: die Philanthropen und Aufklärer. Schade dass die Natur so wunderbar und unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen sie zu modernisieren zum Trotz. Duckte sich ja irgendwo ein alter Aberglaube an eine höhere Welt und sonst auf, so wurde gleich von allen Seiten Lärm geblasen, und wo möglich der gefährliche Funke durch Philosophie und Witz in der Asche erstickt; dennoch war Toleranz das Losungswort der Gebildeten, und besonders in Frankreich gleichbedeutend mit Philosophie. Höchst merkwürdig ist diese Geschichte des modernen Unglaubens, und der Schlüssel zu allen ungeheuren Phänomenen der neuern Zeit. […]

12 Kommentar schreiben zu Absatz 12 0 Nun wollen wir uns zu dem politischen Schauspiel unsrer Zeit wenden. Alte und neue Welt sind in Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phä­nomenen offenbar geworden. Wie wenn auch hier wie in den Wissenschaften eine nähere und mannigfalti­gere Konnexion und Berührung der europäischen Staaten zunächst der historische Zweck des Krieges wäre, wenn eine neue Regung des bisher schlummernden Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte, wenn ein Staat der Staaten, eine politische Wissenschaftslehre, uns bevorstände! Sollte etwa die Hierarchie diese symmetrische Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins als intellektuale An­schauung des politischen Ichs sein? Es ist unmöglich dass weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinetter, des gemeinen Bewusstseins ist keine Vereinigung denkbar. […]

13 Kommentar schreiben zu Absatz 13 0 Wer weiss ob des Kriegs genug ist, aber er wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt und von heiliger Musik getrof­fen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein grosses Liebesmahl, als Friedensfest, auf den rauchenden Walstätten mit heissen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installieren.

14 Kommentar schreiben zu Absatz 14 0 Haben die Nationen alles vom Menschen – nur nicht sein Herz? – sein heiliges Organ? Werden sie nicht Freunde, wie diese, an den Särgen ihrer Lieben, vergessen sie nicht alles Feindliche, wenn das göttliche Mit­leid zu ihnen spricht – und Ein Unglück, Ein Jammer, Ein Gefühl ihre Augen mit Tränen füllte? Ergreift sie nicht Aufopferung und Hingebung mit Allgewalt, und sehnen sie sich nicht Freunde und Bundesgenossen zu sein?

15 Kommentar schreiben zu Absatz 15 0 Wo ist jener alte, liebe, alleinseligmachende Glaube an die Regierung Gottes auf Erden, wo ist jenes himmli­sche Zutrauen der Menschen zueinander, jene süsse Andacht bei den Ergiessungen eines gottbegeisterten Gemüts, jener allesumarmende Geist der Christenheit? […]

16 Kommentar schreiben zu Absatz 16 0 Angewandtes, lebendig gewordenes Christentum war der alte katholische Glaube, die letzte dieser Gestalten. Seine Allgegenwart im Leben[,] seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mitteilsamkeit, seine Freude an der Armut, Gehorsam und Treue machen ihn als echte Religion unverkennbar und enthalten die Grundzüge seiner Verfassung. […]

17 Kommentar schreiben zu Absatz 17 0 Die Christenheit muss wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen bilden, die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoss auf­nimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird.

18 Kommentar schreiben zu Absatz 18 0 Sie muss das alte Füllhorn des Segens wieder über die Völker ausgiessen. Aus dem heiligen Schosse eines ehrwürdigen europäischen Konsiliums wird die Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religions­erweckung, nach einem allumfassenden, göttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protes­tieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden.

19 Kommentar schreiben zu Absatz 19 0 Wann und wann eher? darnach ist nicht zu fragen. Nur Geduld, sie wird, sie muss kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird; und bis dahin seid heiter und mutig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und Tat das göttliche Evan­gelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.

Quelle:http://www.thmichel.com/texte/2022/08/04/novalis-die-christenheit-oder-europa/